Luisa Schlotterbeck - Invisible Things
Luisa Schlotterbeck
Wilhelm Mundt: Invisible Things (2023)
Seit 1988/89 widmet sich Wilhelm Mundt, Professor für Bildhauerei an der HfBK Dresden, den von ihm so betitelten Trashstones. Sie manifestieren eine sich immer weiter entwickelnde und doch konsequente Konzeption von Bildhauerei und formen sich aus zu amorphen plastischen Körpern.
Mundt arbeitete auch mit Videos, Fotografien, Zeichnungen, Performances und Rauminstallationen, die nicht ausschließlich die Trashstones behandeln, sondern ihnen mal ferner, mal näherstehen und Körperlichkeit, Dasein, Emotionen, das Leben und seine Sterblichkeit reflektieren und Fragen nach Skulptur nachgehen. Was ist Skulptur? Wo endet eine Skulptur und wo beginnt sie? Es ist, als würden wir fragen, wo unser Körper aufhört und unsere Seele beginnt und vice versa. Seit tausenden von Jahren findet die Menschheit auf unterschiedlichste Weise zu solchen Überlegungen: Von der antiken Philosophie mit ihren Ideen vom metaphysischen Raum, über zeitgenössische Überlegungen, beispielsweise zu Gewalt, die jüngst auch als nicht-körperliche Gewalt Einzug in die Justiz hielt, bis hinzu den aktuellen Studien in den Neurowissenschaften. Dabei kann die Arbeit Wilhelm Mundts, speziell die ausdauernde Arbeit an den Trashstones, als eine Art Manifestation eben dieser Fragestellungen verstanden werden. Möglicherweise sind sie der ästhetische Umgang oder das ästhetisch „In-Form-Gebrachte" (also die Leibhaftigkeit) eben jener Fragestellungen.
Die Trashstones, behaupte ich, gehören zu den konzentriertesten und tiefgründigsten Beiträgen zur zeitgenössischen Bildhauerei. Sie sind einprägsam und lokalisierbar. Jedes Werk des mittlerweile knapp über 800 Skulpturen umfassenden Oeuvres ist nach ähnlichen bis gleichen Parametern geformt worden. Den formalen Ausgangspunkt der Trashstones bilden Produktionsrückstände aus dem Atelier, die der Künstler in einem physisch anspruchsvollen Prozess zu Klumpen formt, presst und komprimiert. Diese werden schließlich in vielen Arbeitsschritten mit einer festen Hülle bzw. Haut aus Glasfaser, farbigem Kunstharz oder Aluminium ummantelt. So erhalten sie am Ende ihre biomorphe Form und Gestalt, mit einer fetischisierenden, glatten Oberfläche, die zum Anfassen einlädt. Jeder Stein ist chronologisch nummeriert, angefangen mit 001. Manche dieser Steine sind fast monumental, andere wiederum ganz klein, modellhaft. Sie changieren in Form und Farbigkeit. Gemein ist ihnen das kompakt Monolithische. Mit ihrem Kontinuum der Oberfläche und ihrer kraftvollen Präsenz wirken sie wie vom Himmel gefallen. In dieser Welt stehen sie entrückt da und doch sind sie in ihrer Leibhaftigkeit unmittelbar.
In der Ausstellung Invisible Things (Unsichtbare Dinge), die in Paderborn zwischen Marktkirche und Theologischer Fakultät oszilliert, sehen wir im Grunde genommen zwei Werke des Künstlers. In einer ehemaligen Seitenkapelle der Marktkirche befindet sich die Arbeit Regal III (2019). Sie besteht aus einem Regal, welches neun Steine auf drei Ebenen trägt. Wo früher auch Taufen und Gottesdienste stattfanden, wird heute normalerweise eine Fotodokumentation zur Geschichte der Kirche gezeigt, die im II. Weltkrieg bis auf die Außenmauern zerstört worden war. An dieser Stelle laufen mehrere ästhetische oder phänomenologische Linien zusammen. Die Arbeit verdeutlicht beispielsweise mit der Nummerierung der einzelnen Werke eine bildnerische bzw. bildhauerische Inventarisierung ihrer selbst. Damit werden ihre Historizität und ihr Konzept deutlicher hervorgehoben als bei einem einzelnen Stein, der beispielsweise im Voralpenland zu sehen ist. Dies ist auch ein Kern der Arbeitsweise Wilhelm Mundts, der immer wieder die Perspektive auf sein eigenes Schaffen verändert, um kritisch zu neuen Erkenntnissen zu gelangen. Doch anders als bei Aktenordnern sind die Zeitdokumente im Inneren der Trashstones nicht dechiffrierbar, da sie uns nicht zugänglich gemacht werden. Sie bleiben unsichtbar—für immer unter Verschluss. Unterstrichen wird die Unzugänglichkeit zu eben jenen Informationen durch die Gittertüre, die den Raum vom restlichen Teil der Kirche trennt und die Betrachter:innen auf Distanz zum Werk hält. Das Spannungsverhältnis zwischen Nähe und Distanz sowie innen und außen ist ein Ankerpunkt der bildhauerischen Handlungen des Künstlers. Doch kann jene informative Leerstelle auch als skulpturale Erweiterung gelesen werden: über die Membrane und ihren Träger hinaus bis hin zur Architektur des Raums, der sie umgibt.
Diese Erweiterung trieb Wilhelm Mundt in seiner Ausstellung Totes Kapital (2023) in der Neuen Galerie Gladbeck auf die Spitze: Dort baute er einen ganzen Raum aus Industriegummi, der wie das Innere eines Steines wirkte und die Besucher:innen zwang, ihre Bewegungen performativ dem Willen des Künstlers bzw. des Werks unterzuordnen. Denn auch das ist Kern skulpturaler Überlegungen: ihr Raum und die Menschen, die sich darin bewegen.
Das zweite Werk der Paderborner Ausstellung, platziert im Foyer der Theologischen Fakultät, ist eines der größten Exemplare seiner Art. Es verschmilzt auf eine sehr eigenwillige Manier mit der Architektur: Der Trashstone perforiert das Mosaik des Bodens und wirkt zugleich, als wäre der Raum um ihn herum und für ihn allein entstanden. Die unmittelbare Körperlichkeit der Arbeit und ihre wandelbare Erscheinung, erzeugt durch Veränderungen des Lichts und der Umgebung, hauchen Leben in ihren toten Körper. Es ist mehr Begegnung als Betrachtung, zumindest in meinen Augen. Wilhelm Mundt erforscht und provoziert die Grenzen bildhauerischen Arbeitens und kehrt Verhältnisse um: Das Äußere wird zum Inneren, Objekt wird Körper und Totes wird beseelt. Seine Trashstones generieren eine animistische Wirkungskraft und wollen doch nur sein, was sie sind.
Luisa Schlotterbeck, Wilhelm Mundt: Invisible Things, Marktkirche / Theologische Fakultät, Paderborn, 2023